Die Aachener Fronleichnamskirche ist das bekannteste und zugleich am breitesten und ausführlichsten dokumentierte Werk von Rudolf Schwarz aus der Zeit der Kunstgewerbeschule. Die Existenz zahlreicher Ideenskizzen, Entwurfsvarianten, Grundrisse und Perspektiven erlaubt einen Blick in die Entwurfsarbeit einer Werkgemeinschaft, um deren Systematisierung sich gerade die jüngere Forschung verdient gemacht hat 42. In allen Planungen bleibt als Grundprinzip die Polarität eines langgestreckten, quaderförmigen Baukörpers und eines hochaufragenden Campaniles erhalten. Variabel ist zunächst auch die Anbindung eines niedrigen Seitenschiffes (parallel oder winkelförmig) und die Frage der Lichtführung. Vorstufen waren hier eine Trennreihe von Stützsäulen, sowie Seiten-, Stirn- oder Fassadenwände mit lang heruntergezogenen Lichtlamellen.
Die Ausführung schließlich wählt die strengste aller Formen, einen liegenden hochrechteckigen Quader (Länge 47 Meter, Breite 13 Meter, Höhe 21 Meter) mit leicht giebelförmigen Schmalseiten, im Innenbereich mit gänzlich freigelassener Altarwand, sowie einem in der oberen Wandzone umlaufenden Lichtband aus quadratischen Fenstern, die lediglich im Altarbereich der nordöstlichen Längswand in zwei Reihen zum Boden hinabgeführt sind. Das niedrige Seitenschiff (als Beicht- und Kreuzwegkapelle) ist nur durch einen vier Meter breiten Pfeiler, der die Kanzel trägt, vom Hauptraum getrennt. Der quadratische, 40 Meter hohe Glockenturm ist neben das zur Sakristei verlängerte Seitenschiff gesetzt. Die schmale, in luftiger Höhe Turm und Hauptschiff verbindende Eisenbrücke wirkt wie eine ironische Reminiszenz an die Pilgerbrücke des Aachener Münsters. Das niedrige Pfarrhaus erstreckt sich an der anderen Seite der Kirche 43. Der Werktagseingang befindet sich an dem zur Vorhalle (Taufkapelle) ausgebildeten unteren Teil des Seitenschiffes; man tritt von dort aus einer niedrigen Zone in den hohen, hellen Hauptraum ein.
Eine Würdigung der Kirche als geistig-religiöses Bauwerk wurde zunächst weniger von Schwarz selbst als von seinen Interpreten wie Romano Guardini oder Hans Karlinger vollzogen. Begriffe wie Armut und Askese, Leere als Gottesfülle, stille Anwesenheit Gottes, oder Raum für Werkchristen sind schon weitergehende, stark interpretierende Deutungen; Schwarz äußerte sich 1930 noch eher formal beschreibend: er wollte "eine Dominante in die Unordnung" stellen, und zunächst mit den neuen Formen der Zeit auf den Verlust der alten Architekturikonographie reagieren. Das "künstlerische Thema dieser Kirche (ist) tatsächlich der Kasten'"; die wachsende Raumfolge entspricht dem Wachsen der Idee 44.
Ihre große Bedeutung erhielt St. Fronleichnam auch durch ihre einheitliche Ausstattung, durch die sie in den Rang eines neuen Gesamtkunstwerkes erhoben werden konnte. Ihre Grundlage wäre wieder der gemeinsame Gestaltungsimpuls der Aachener "Bauhütte", doch erscheint Schwarz hier als jene geistige Führungskraft, welche die einzelnen Meister um ein gemeinsames Konzept versammelt. So wie er selbst seine Entwürfe immer stärker bereinigte, mussten auch manche Arbeiten der Mitarbeiter wieder zurückgestellt werden. Schwarz verzichtete zuletzt völlig auf Monumentalmalerei und Mehrfarbigkeit des Raumes, beschränkte sich auf den Kontrast von schwarzem Marmor und hellem, weißem Putz (für das, was "Erde" ist, beziehungsweise "von ihr fortstrebt"). Die Lebendigkeit des Marmors mit seinen feinen weißen Adern wird vor allem am Pfeiler des Seitenschiffs deutlich, an denen Schwarz die verschiedenen Linienstrukturen der Platten gegeneinander versetzt hat. Die freie Wand hinter dem stufenförmig ansteigenden Altar war immer einer der besonders eifrig diskutierten Orte der Kirche: Bereits 1930 hatte Wendung zur Probe eine strenge, monumentale Christusfigur für die Wand skizziert; Anfang der 40er Jahre sollte endlich eine gemalte Dekorierung durchgesetzt werden 45, doch bis heute hat diese Wand - von Deutungen und Anekdoten umgeben 46 - ihren monumentalen Charakter bewahren können. Sicherlich hat Schwarz diesen Bau im Sinn gehabt, als er 1930 von der neuen Ornamentik des menschlichen Leibes in den leeren Räumen sprach ("diese Räume hoffen auf schöne Menschen" 47) oder 1936/37 bekannte: "Gott ist oben. Der leere Raum zwischen Tisch und Zenith ist sein Thron"48.
Erst in der Rückschau beschäftigt sich Schwarz genauer mit dem zentralen Thema des "Herrenleibes" ("Fronleichnam") - der in der Kirche verwirklichten Leibeseinheit von Volk und Herr -, wobei er den naheliegenden Gedanken an eine Prozessions- oder Wegekirche zurückdrängt bzw. hier zu einem Ende kommen lässt, "im erreichten Ziele gestillt" sieht 49. Ohne explizit darauf hingewiesen zu haben, dürfte er in diesen Gedanken wieder an seine Schrift "Vom Bau der Kirche" (1938) anknüpfen, insbesondere an den "Heiligen Weg des vierten Planes" 50. Die vom Oberbürgermeister und den Kirchenbehörden abgelehnte, vom Kunstbeirat der Stadt positiv gewürdigte, letztlich aber ohne bischöfliche Genehmigung erbaute Kirche 51, ist trotz einiger Inventarverluste und Einbauten noch immer das einheitlichste Bauwerk der Aachener Schule. Dies liegt auch in der gemeinschaftlichen Ausstattung begründet: Altar, Kanzel, Weihekreuze, Taufstein und die an langen Schnüren hängenden Soffitten 52 gehen auch auf Schwarz zurück. Schwippert entwarf das Mobiliar, später auch den Orgelprospekt (1940); Altarleuchter, Ewiglicht und Osterleuchter stammen von Fritz Schwerdt, dem Mitarbeiter Anton Schickeis, ebenso der erste Messkelch mit dem Berg-kristallnodus 53, Anton Schickel selbst entwarf die quadratische Bergkristallmonstranz, sein Schüler Hubert Dohmen das Rauchfaß und ein Ziborium (letzteres nach Entwürfen von Schwarz); das Vortragekreuz arbeitete Wilhelm Giesbert, die Meßgewänder Wilhelm Rupprecht, die Kirchenfahnen Anton Wendung. Wilhelm Rupprecht schuf auch 1930-1936 einen großformatigen, gestickten Kreuzweg für das Seitenschiff (ebenso ein Marienbild). Von Fritz Schwerdt stammt das kleine emaillierte Standkreuz auf dem Altar, welcher ursprünglich noch eine reine Metallkiste gewesen war, und erst in den 50er Jahren von Schwerdt verkleidet wurde; den Elfenbeinkorpus schuf der Minkenberg-Schüler Walter Ditsch. Das Altarkreuz genügte Rudolf Schwarz vollkommen als "Bezeichnung des Raumes".
Eines der großen, unausgeführten Projekte blieben die leicht farbigen, geometrischen Glasfensterentwürfe von Wendung, der aus liegenden Rechteckformen ein serielles Rasterornament entwickelt hatte54. Schwarz entschloss sich am Ende jedoch für Fenster aus einfachem Industrieglas. Selbst hinsichtlich der von ihm hochgeschätzten, und für die Präsentation seiner Baukunst als besonders wichtig erkannten Fotos von Albert Renger-Patzsch, ließ es Schwarz es sich nicht nehmen, selbst seine dezidierten Wünsche und Korrekturen an Motiv und Blickwinkel seinem Meisterkollegen zu übermitteln55.
Der grundsätzliche Verzicht auf plastischen Bildschmuck ist bereits 1931 durch die Aufstellung von zwei hölzernen, farbig gefassten Heiligenfiguren aufgegeben worden56. Ihr stilisiertes Pathos behauptet sich in der Strenge des Raumes ebenso wenig wie die zwangsläufigen, dekorativen Zutaten der jüngsten Zeit, unter denen der neue, nach Abbruch der alten Kommunionbank errichtete Zehlebrationsaltar besonders auffällt. Als Monument im Arbeitervorort Rothe Erde blieb der Bau für alle modernen Architekten wegweisend. Noch 1957 bekannte Hermann Bauer: "In letzter Nacktheit stand hier Architektur da, Hülle eines Raumes, gefügt mit vollendetem Maß (sie!), das Urelement der Lichtführung dem Kult und dem Sinne des Hauses Gottes dienstbar gemacht."57
Anmerkungen: 42 - Vgl. Pehnt/Strohl, S. 70ff., WVZ Nr. 12; Britta Giebeler, Sakrale Gesamtkunstwerke, Weimar 1996, S. 159ff.
43 - Es ergibt sich somit eine Höhensteigerung vom Pfarrhaus über die Kirche zum Turm. Im Jahre 1936 verlängerte Hanns Schwippert den Pfarrhaustrakt, wandelte das ursprüngliche, aufgereihte Fensterband aber in eine blockhafte Fenstergliederung ab. Die kleine Eingangstür mit Windfang an der Südwestseite des Seitenschiffs ist heute verschwunden.
44 - Vgl. R.S., Fronleichnamskirche, in: Die Schildgenossen, 11, 1931, 3, S. 284f. Eine Luftbildaufnahme zeigt bereit den Wandel zu einer städtebaulichen Regelmäßigkeit in der kurz nach St. Fronleichnam entstandenen Siedlung "Im Panne-schopp". 45
H. Schwippert wandte sich energisch gegen ein geplantes Altarbild von H. Krahforst (26.5.1941, Bisch. Diözesanarchiv Aachen, Akte St. Fronleichnam, 2l). Vgl. auch A. Brecher (a.a.O., Anm. 52), S.90 f. und die Abb. eines zwischenzeitlichen Wandteppichs (ebda, S. 84). 46
Auf die Frage nach einem möglichen Thema für ein Bild auf der Altarwand antwortete Schwarz ironisch mit einem Motiv aus der Genesis: "Am Anfang war die Erde wüst und leer." (nach Prof. Steinbach, in: M. Sundermann, a.a.O., 1981, S. 119)
47 - Vgl. R.S., Über die Verfassung einer Werkschule, 1930, S. 18.
48 - Zit. R.S., Altar, in: Die Schildgenossen, 16, 1936/37,5. 137.
49 - R.S., Kirchenbau, S. 16,20.
50 - Vgl. auch seine Schemazeichnungen aus dem vierten Plan (der Heilige Weg), S. 78 sowie die Gegenüberstellung von Zeichnung und Kirche in: R.S., Denken und Bauen, Heidelberg 1963, S. 44/45.
51 - Siehe August Brecher, St. Fronleichnam, Aachen 1997, S. 15-29. Den (vielleicht vorsorglichen ) Rat zum Verzicht auf eine Bauausschuß-Vorlage begründete der Kunstbeirat formal mit der Lage der Kirche in einem "nicht durch Ortsstatut geschützten Gebiet" (STA, OB Reg. 181). Vgl. auch Brechers umfangreiche Zitatensammlung positiver und negativer Stimmen zum Neubau (S. 30-50). Ein Pamphlet erschien auch im "Westdeutschen Grenzblatt" (Vorläufer des "Westdeutschen Beobachters"), Nr. 58, 1930. Trotz der Beteiligung des Statikers Prof. Pirlet führte die neue Bauweise manchmal auch zu technischen Problemen: Beim 1. Geläut von St. Fronleichnam brach die "Brücke" ein, bei einem Sturm flog das Dach der Sozialen Frauenschule weg. (Mitteilung M. Getz)
52 - R. Schwarz wollte das "Licht nicht als Lampe, sondern als Helligkeit, als leuchtender Raum" einsetzen (Die Schildgenossen, 1931, S. 286).
53 - Der "im Einvernehmen mit Rudolf Schwarz" (Jahrbuch für Christliche Kunst, 1957/58, S. 11) entstandene Kelch wurde nach dem Krieg zu Ausstellungszwecken nochmals ausgeführt (Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen). Eine Variante des Kelches mit einem emaillierten Nodus entstand einige Jahre später (1940).
54 - Abb. in: Werkklassenheft A. Wendung, 1930. Der auf dem Umschlag von A. Brecher (a.a.O.) abgebildete Grundstein dürfte wohl durch Anton Wendung geschaffen worden sein.
55 - Briefe an Renger-Patzsch vom 10.12.1930; 22.1.1931; 13.3.1931.
56 - Hl. Judas Thaddäus und Hl. Joseph von P. Orchal - letzterer trägt paradoxer Weise im Arm ein Modell
von St. Fronleichnam. Zu den "Erneuerungen" vgl. Brecher, a.a.O., S. 63 ff., S. 169 ff, sowie Karl Wimmenauer, Ein neuer Altar für die Fronleichnamskirche?, in: Kunst und Kirche, 1981, 2, S. 100. Sogar im Schwarz-Nachlaß befinden sich mehrere Probeskizzen mit äußerem Figurendekor (Pehnt/ Strahl, Abb. S. 74). Möglicherweise hatte auch ein Christuskind von Maria Eulenbruch zeitweise als Krippenfigur in St. Fronleichnam Verwendung gefunden.
57 - Kat. ars sacra, Löwen 1958.
Rudolf Schwarz und die Geschichte der Aachener Kunstgewerbeschule, Adam C. Oellers (1997)